Wie wir nach Corona neu durchstarteten

„Ja, hallo, mein Name ist Mira*. Ich brauche dringend Nachhilfe in Mathe 10.Klasse.“ Ich übernahm die Stelle JMD im Quartier Gotha-West im Februar 2022. An meinem 3. Arbeitstag erhielt ich Miras Anruf. Gerade hatten meine Kollegen erzählt, dass es wahrscheinlich Bedarf bei Nachhilfe gibt. Meine Vorgängerin hatte sich bereits um ehrenamtliche Kräfte dafür bemüht. Dann kam Corona. Dann war die Stelle unbesetzt bzw. mit 50% neu besetzt von meiner Kollegin Johanna, die im IV. Quartal 2021 einige Projekte digital bzw. „to go“, also z.B. einen Adventskalender zum Abholen, anbot.

O.K., dann wird mein erstes Microprojekt ein Nachhilfeprojekt….Die Organisation erwies sich als nicht so einfach. Ich hatte eine DaZ-Lehrerin im Ruhestand gefunden, die ein beachtliches Honorar forderte, zeitlich unflexibel war und nach meiner Frage nach einer Corona-Impfung plötzlich doch nicht mehr wollte. Über die Ehrenamtsagentur fand sich keine geeignete Person. Über unsere Schulsozialarbeiter und Respektcoaches wurde mir indes weiterer Bedarf gemeldet. Mira rief wöchentlich an: „Es ist wirklich dringend! Ich möchte den Realschulabschluss schaffen. Meine Geschwister brauchen auch Unterstützung.“ Da hatte ich die Idee, Gymnasiasten aus oberen Klassen anzusprechen. Über einen befreundeten Lehrer fand ich Max* und Marvin*. Das war ein Glückstreffer. In Windeseile beantragte ich Projektmittel und die Beiden unterschrieben ihren Honorarvertrag. Ich arbeitete mich Stück für Stück voran, plante nebenher einen Nähkurs. „Immerhin bist du noch in der Einarbeitungszeit“, tröstete mich meine Chefin bei Rückschlägen.

Dann begann der Ukrainekrieg und mit langsamer Einarbeitung und strukturiertem Arbeiten war es schlagartig vorbei. Wir waren plötzlich die Zentrale für Spendensammlung und Anfragen aller Art, sortierten und verpackten tonnenweise Lebensmittel, Babysachen und Hygieneartikel und meine Kolleginnen fuhren Anfang März mit 8 Kleinbussen zur ukrainischen Grenze, brachten auch Geflüchtete mit, die jedoch zuerst in die Großstädte ziehen wollten. Inzwischen leben auch in Gotha und Eisenach ukrainische Menschen, die jedoch vorerst noch kein Interesse an weiterreichenden Angeboten haben. Wenn die Kollegin für die Beratung dieser Klientel im September ihre Arbeit antritt, wird sich dies sicher ändern.

Im März startete unser Projekt „Bildungstüren offenhalten – junges Empowerment in Kleingruppenarbeit“. An zwei Nachmittagen in der Woche lernten Max und Marvin mit je zwei Gruppen Schülern aus den Klassenstufen 5 -10. Nach all den Monaten im Homeschooling und dem vielen Ausfall in den letzten zwei Jahren hatten besonders die Schüler*innen mit Migrationsbiografie, die zuhause auch keine Unterstützung bei den Hausaufgaben und dem Lernstoff von den Eltern bekommen konnten, großen Hilfebedarf. Mit viel Power und Kreativität arbeiteten die zwei Gymnasiasten mit den Jugendlichen. Besonders Mathe war immer gefragt. Oft blickte ich in strahlende Gesichter: „Jetzt habe ich das endlich verstanden.“ Milyon* fragte: „Können wir auch in den Ferien kommen?“ Es wurde viel gelacht und die Atmosphäre war prima. In den ersten Wochen mussten wir noch die Coronatests nachfragen und Masken tragen, es gab auch coronabedingte Ausfälle. Dann fielen die Regelungen weg und bei der Schuljahresabschlussparty konnten wir alle gemeinsam feiern und essen. Es gab auch Grund zum Feiern. Fast alle Teilnehmenden haben Ihre Schulabschlüsse geschafft oder sich in den Noten verbessert. Mira hielt ein gutes Realschulzeugnis in den Händen und strahlte. Muhlbran* und Milyon fragten: „Dürfen wir im nächsten Schuljahr wiederkommen?“ Marvin und Max sagten: „Wir machen gern noch weiter bis zur Abiturphase. Und wir haben noch zwei interessierte Klassenkamerad*innen, die auch als Honorarkräfte im Projekt arbeiten wollen. Wahrscheinlich brauche ich die im September auch, um zwei weitere Termine anbieten zu können.

Milyon packte bei der Abschlussfeier ein Spieleset aus und wir spielten „Mensch ärgere dich nicht!“ und „Dame“. Die Mädchen aus der 9. Klasse kamen etwas später. Ich sagte: „Wir können die Spiele jetzt auch wegräumen.“ Madina* rief: „Nein. Wir lieben dieses Spiel.“ Und eine neue Projektidee war geboren. Ich freue mich, dass die Jugendlichen nicht nur am Handy spielen, wie ich mutmaßte, und plane ab Oktober ein generationsübergreifendes Spielecafe… Meine Kollegin Johanna, arbeitet als Respektcoach und mit 10 Stunden im JMD-IQ. Sie betreut gerade einen Skaterworkshop, der auch schon lange geplant war und arbeitet in meinen Projekten vertretungsweise mit.

Zwei weitere Projekte, die es vor Corona schon einmal gab, habe ich auch wieder aufgelegt. Ein Nähkurs war im Nu ausgebucht und ich setze ihn aufgrund der hohen Nachfrage ab September als Nähcafé fort. Ein Treff für Mütter mit Kleinkindern, die noch keinen Kitaplatz haben „MIA“ findet seit Mai wieder wöchentlich statt. Die Resonanz ist sehr groß. Jetzt in den Sommerferien brachten die Mütter z.T. auch ihre größeren Kinder mit und so machten wir drei Ausflüge mit 40-50 Personen an einen Stausee, zum Baumkronenpfad und ins Freibad. (Foto 3)

Die Ausflüge hatte die Stadtteilmanagerin ursprünglich für Kinder aus dem Quartier organisiert, es waren dann noch Plätze im Bus frei und ich schloss mich mit MIA an. (Eine Integrationsgeschichte – mal andersrum – erzählt Wipfelstürmer, siehe Ende)

Als ich im Februar 2022 die Stelle JMD im Quartier noch in der Coronazeit und anfangs mit vielen Regelungen übernahm, hatte ich Sorge, dass ich überhaupt keine analogen Projekte durchführen könnte. Meine Vorgängerin und meine Kollegin Johanna haben 2021 einige Projekte durchgeführt. Mitmachaktionen zum Abholen oder digital, wie Adventskalender, Weihnachtsgeschichten in verschiedenen Sprachen und das Projekt Jugendgerechte Stadt (junge Menschen wurden aktiviert, sich mit einem Video an den Jugendpolitiktagen zu beteiligen).

Die Herausforderung war, den Bezug/Kontakt zu Menschen im Quartier nicht zu verlieren, da das soziale Leben stark eingeschränkt wurde. Gespräche fanden teilweise über Balkone statt. Den Jugendlichen fehlten digitale Endgeräte. Der JMD iQ konnte mit seinem Engagement, trotz unterschiedlicher Interessenlagen der einzelnen Netzwerkpartner, gewinnbringende und nachhaltige Angebote für die Quartiersbewohnenden aufbauen.

Es war mein Anliegen, die durch die Pandemie eingeschlafenen Projekte wiederzubeleben, die jungen Menschen dauerhaft für Projekte zu gewinnen und die Quartiersbewohnenden und Netzwerkpartnern neu zu aktivieren. Da durch den gemeinsamen Träger Diakoniewerk gGmbH Gotha und den Sitz am Coburger Platz mit JMD, JMDiQ, Respektcoaches und Stadtteilmanagerin eine gute Vernetzung und Teamarbeit besteht, war diese Aufgabe nicht allzu schwierig. Außerdem gibt es ein bestehendes Netzwerk, über das sich Flyer, Plakate und Informationen digital und analog ausbreiten. Weiterhin besteht eine gute Zusammenarbeit mit den Schulsozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern und einigen engagierten Lehrerkräften. Viele Teilnehmer an meinen Projekten haben meine Kolleginnen und ich direkt vor Ort im Quartier oder als sie im Beratungsraum die Plakate und Flyer sahen, angesprochen. Manche Angebote verbreiten sich in den Netzwerken der Teilnehmenden rasant.

Ich bin nicht so der „digitale Typ“. Außerdem dachte ich, es sei schwer nach den langen Lockdowns das Klientel wieder zu mobilisieren. Diese Befürchtungen erwiesen sich als unbegründet. Alle sind froh, endlich wieder „unter Menschen“ sein zu können und direkte Begegnungen zu haben. Es ist für Jugendliche nach wie vor wichtig, dass sie sich Räume aneignen können und sich ausprobieren, ihre Selbstwirksamkeit erfahren, Gruppenprozesse erleben und den Austausch und die Möglichkeit des persönlichen Kontaktes haben. Kinder, Jugendliche, junge Erwachsene und eigentlich Menschen jeden Alters brauchen Gemeinschaft. Gemeinsames Lernen und Austesten, Interaktion und Kommunikation sowie das Entstehen und Vertiefen von Freundschaften und Beziehungen können auf Dauer nur im „wirklichen Leben“ stattfinden.

Die Projekte sprechen sich herum, ich bräuchte eher mehr personelle und räumliche Kapazitäten. In der letzten Sommerferienwoche findet, bevor es mit Hausaufgabenhilfe und Nähen wieder losgeht, erstmal ein Rap-Workshop statt.

Meine Kollegin Isabelle und mein Kollege Michael haben während der gesamten Coronazeit die Klienten beraten. Anfangs funktionierte es nur telefonisch, dann auch online und seit vorigem Jahr dann unter den jeweiligen Hygieneregelungen mit Terminvergabe. Nun bekommen sie Verstärkung, eine Kollegin wird mit einer 50% Stelle die ukrainischen Geflüchteten beraten. In Kürze soll auch wieder eine offene Sprechstunde stattfinden, zur Beratung dringender Fälle, zur besseren Strukturierung der Termine und zum Bearbeiten von kleineren Anliegen. Ansonsten hat sich in der Beratung die Terminvergabe bewährt. Auch auf Onlineformate kann im Notfall wieder zugegriffen werden. Die Beratungsstellen, die Behörden und nicht zuletzt die Klienten sind inzwischen digital ausgerüstet.

In der Arbeit des JMDiQ gibt es nun für hoffentlich nicht stattfindende zukünftige Pandemien auch mehr Möglichkeiten, den Kontakt zu den Jugendlichen über soziale Medien und virtuelle Formate zu halten. Die Gegenwart zeigt aber, dass dies nur Ergänzung und kurzfristiger Ersatz sein sollte zu den schönen, schwierigen, ermutigenden und stärkenden Erfahrungen und Erlebnissen, die gemeinsames Tun und Lernen im Projekt und Gemeinwesen bringen.

*Namen geändert


Wipfelstürmer

„Guck mal, jetzt haben wir Mewael* zum Schlafen gebracht!“ Glücklich kutschieren Marie* und Michelle* den Kinderwagen mit dem neun Monate alten Sohn von Medhanit* über den Baumkronenpfad. Malik* greift nach meiner Hand und plappert fröhlich drauflos. Er ist ganz aufgeregt von den vielen neuen Eindrücken. Gerade war er noch mit Ute auf dem Turm und Mama Manal* kann, weil Memnun* auch selig schläft, entspannt ihren Blick über die Baumwipfel gleiten lassen. Die größeren Kinder haben alle Aussichts- und Kletterelemente auf dem Pfad absolviert und fragen jetzt nach Mittagessen und Spielplatz. Auch die Mütter meinen, wir können jetzt mit den Kinderwagen im Fahrstuhl nach unten fahren und ein schattiges Plätzchen für die Mittagspause suchen.

Auf dem Spielplatz toben die Kinder vergnügt herum, alle haben ihre Lieblingsspielgeräte gefunden, Monira* spielt Ärztin und „operiert“ Elisa, die auf einer Holzliege liegt, die teuren aber unbekömmlichen Pommes aus dem Bauch. Die großen Kinder fragen mir inzwischen Löcher in meinen: „Petra, wann fahren wir ins Schwimmbad? Gibt’s dort eine Rutsche? Wann ist der Rapworkshop?“

Ariane kommt mit den Frauen und Kindern, die noch das Museum besichtigt hatten: „Auf, wir müssen zum Bus!“ „Oh, nein, schade, jetzt schon...!“ Elisa sagt mit Blick zu Marie und Michelle, die Mewael wieder in den Kinderwagen setzen: „Gelungene Integration!“ Ariane und ich nicken. Nicht immer hat man als Sozialarbeiterin so schnelle Erfolge. Ariane als Quartiersmanagerin in Gotha West hatte die drei Ausflüge, zum Stausee Hohenfelden, zum Baumkronenpfad und als letztes ins Freibad „Gleisdreieck“ geplant und einen Reisebus bzw. Waldbahn gechartert. Bei ihr hatten sich zehn Kinder aus Familien, die sich auch keinen Urlaub leisten können, angemeldet. Da lag es nahe, mich mit den „MIA-Müttern“ anzuschließen. Natürlich haben die syrischen, somalischen und eritreischen Mütter auch ihre größeren Kinder, die sonst während des Mutter-Kind-Projektes in Kita oder Schule sind, mitgebracht. Im Nu war der Bus voll.

Auf der ersten Fahrt waren Marie und Michelle voller Vorbehalte: „Petra, sag denen, die sollen nicht so laut singen, wir kriegen Kopfschmerzen. Die stehen schon wieder auf. Was haben die für komische Sachen an. Die…“ Die Mädchen hielten sich an Ariane und suchten auch nicht den Kontakt mit den syrischen Kindern in ihrem Alter. Diesmal setzten sie sich schon auf der Hinfahrt neben die syrischen und eritreischen Frauen und wollten von unserer Ehrenamtlichen Ute, die gerade einen Arabischkurs macht, wissen, was dies und jenes heißt. Man konnte deutlich sehen, wie ihre Vorurteile sich verflüchtigten.

Beim Aussteigen haken die Geschwister von Monira Elisa unter: „So, du kommst jetzt mit zu uns.“ und Medhanit strahlt mich an: „Danke, das war so ein schöner Tag.“ Marie schiebt den Kinderwagen schon wieder: „Wir bringen euch noch nach Hause.“ Da haben sich wohl neue Freunde gefunden. Vielleicht kommt auch Maries Mutter ins MIA, wenn das Geschwisterchen geboren ist?

*Namen geändert

Berichte aus Projekten des JMD im Quartier von Petra Ng’uni, (hauptamtliche Sozialarbeiterin im JMDiQ)